Dies ist der vierte Teil meiner Two Volcano Sprint Race Report Serie, jedoch hatte ich bisher nie das Bedürfnis, diesen Text zu veröffentlichen. Nun, da ich mich beim Transcontinental Race No9 in einer ähnlichen Situation wiederfinde, ist der richtige Moment gekommen, diesen sehr persönlichen Text zu veröffentlichen. Für mich ist es dieses Mal eine weniger schmerzvolle Erfahrung. Möge dieser Text all jene finden, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, die nach Kraft und Sinn in einer ausweglosen Lage suchen und denen er vielleicht etwas Hoffnung geben kann.
Ich blickte auf das Stück Torte vor mir auf dem Tisch, ja, ein echter Tisch, sogar mit einem richtigen Tischtuch, nicht so ein billiges Plastik - oder Papierdeckchen, wie sie manchmal an den Schnellimbiss-Tischen so läppisch im Wind flattern. Nein, dies war ein richtiges Restaurant, man bestellte mehrere Gänge und wartete, bis einem alles in seiner vollständigen Köstlichkeit gebracht wurde. Man erhielt für jeden Gang neues Besteck und auch die Serviette war nicht aus Papier. Alles war solide, Hausmannskost, die richtige, gute, die, bei der der Koch genau weiß was er tut, dies war etwas anderes als die aufgewärmte Erbsensuppe an der Tanke.
Und doch, das Stück Torte vor mir war noch gefroren. Für einen Moment überlegte ich, ob das wohl eine Spezialität sei, aber es war allzu lächerlich, nein, sie hatten einfach vergessen den Tiefkühlkuchen in der Mikrowelle aufzutauen.
Es war sehr passend, eine schöne Metapher für meine Situation. Ich war in einem Rennen, irgendwie war ich noch dabei, aber ich wusste doch schon, dass es eigentlich nicht mehr ganz so war. Ich war wahrscheinlich nie so wirklich dabei gewesen, so wie dieses gefrorene Stück Kuchen nie wirklich Hausmannskost gewesen war, und eine kleine Unachtsamkeit hatte nun alles offenbart.
Ich behielt den Rest der Gedanken noch eine Weile unter Verschluss. Nur noch den gefrorenen Kuchen essen, wie ein zivilisierter Mensch, mit einer hübschen kleinen Kuchengabel, die so heimelig auf dem Porzellanteller klappert. Ich war zu müde und die Bedienung war zu nett, wieso sollte ich mich beschweren, sie hatten mich ohne mit der Wimper zu zucken bewirtet, obwohl ich ganz offensichtlich nicht der perfekte Gast war, zwischen all den frisch geduschten, fröhlichen Menschen, Familien an langen Tischen, alle hatten sich herausgeputzt und ich saß dort, in den gleichen Radklamotten, die ich seit Tagen trug, schmutzig, müde und in der Gewissheit, dass ich dieses Rennen nicht in der Zeit schaffen würde.
Nur noch ein Weilchen, dachte ich, stopp, noch nicht.
Ich blickte mich um, sah mir die Menschen in dem Raum an und was hätte ich gegeben eine von ihnen zu sein. Es war wie in diesen italienischen Nudelwerbespots, nur ohne das offensichtlich Falsche daran, alles war echt und schön und wahr und heiter. Manchmal streifte mich ein Lächeln und ich war überrascht, fast hatte ich geglaubt unsichtbar zu sein. Nur noch ein bisschen sitzen, an diesem Tisch und so tun als ob, so tun als ob ich gleich weiter fahren würde, so tun als ob der Kuchen köstlich und selbstgebacken war, ja vorzüglich, ich nickte, als die Bedienung meinen Teller abräumte. Ich wartete noch einige Augenblicke, bis ich schließlich dachte, dass man mir das Essen wohl auf meine Zimmerrechnung setzen würde. Noch hatte niemand meinen Namen aufgenommen, aber ich war zu erschöpft und zu verwirrt, ich musste schnell schlafen, duschen, meine Wunden versorgen, damit ich in einigen Stunden weiterfahren könnte.
Ich ging den langen Flur entlang zu dem Zimmer, in dem bereits mein Fahrrad und der Renndirektor auf mich warteten.
Da war ich nun in diesem Hotelzimmer, dies war der Moment den ich seit Stunden, ach was Tagen, vielleicht sogar seit Monaten gefürchtet hatte.
Ich hatte nie gedacht, dass es so schmerzvoll sein würde, schmerzvoll im klassischen, physischen Sinne. Meine Knie brannten bei jedem Schritt, ich konnte kaum atmen in der stickigen Luft und ein Fenster gab es nur zu einem kleinen Atrium, das selbst ebenfalls kein Fenster hatte. Ich starrte mein Spiegelbild an, mein Gesicht so geschwollen, dass ich mich selbst kaum erkannte.
Wer zur Hölle ist das, mein Verstand lag in Scherben und als ich feststellte, dass der Abszess an meinem Po blutete, gab es keinerlei Zweifel mehr.
Das Rennen war vorbei.
Ich hatte es nicht geschafft.
Mein Renndirektor war verstummt, es gab kein Rennen mehr, nur noch Dunkelheit und Dämonen.
Ein heißes Brennen breitete sich in meiner Brust aus und ich rang nach Atem. All die Ängste, Zweifel, all das Streben und die Bemühungen, all das Hoffen und Bangen, all die Tage an denen ich an dieses Rennen geglaubt hatte, all das zerbrach in mir in diesem Moment. Ich weinte mich in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf, aus dem ich durch lautes Bollern und Stimmen vor meiner Tür erwachte. Ich schrie irgendetwas wie „Ruhe“ und ein paar Flüche, da wurde es wieder still. Es war immer noch nachmittags auf der Welt, aber in mir war es Nacht.
Als ich von meinem Wecker gegen Abend aus dem Schlaf gerissen wurde, wusste ich erst nicht, wo ich war, sprang auf, bereit, meine Sachen zu packen, aber meine Knie gaben nach, als ich aufstehen wollte. Mein ganzer Körper schmerzte, es war nicht an aufstehen, geschweige denn Radfahren zu denken.
"Ein Clown, das bist du." sagte mein Renndirektor tonlos.
"Ein lächerlicher Clown und alle lachen dich aus. Sieh dich doch an."
Ich versuchte den Renndirektor zum Schweigen zu bringen, so wie ich es oft tat, mit Ablenkung. In diesem Fall griff ich nach meinem Handy, um mich davon zu überzeugen, dass all das nicht stimmte, suchte nach Worten von anderen, die mir bestätigen würden, dass ich keinen Grund hatte mich so schrecklich zu schämen, dass das alles hier nicht so furchtbar sinnlos war.
Doch plötzlich hielt ich inne. Nein, das war nicht der Moment für Ablenkung. Ich ging immer weiter hinein in diese schwarze Loch, in dem ich den Renndirektor auf mich warten glaubte und sagte mit letzter Kraft:
"Es ist niemand hier."
Und tatsächlich, es war niemand da, niemand. Kein Renndirektor und auch keiner, der mich auslachte.
Nur ich selbst.
Ich war ganz allein in diesem Hotelzimmer und blickte meinem schlimmsten Feind direkt entgegen. Ich war es die ganze Zeit gewesen, die die widerlichsten nur denkbaren Gemeinheiten gegen mich selbst aussprach, ich hatte mich ausgelacht, mich verhöhnt, mich gequält. Niemand hätte mir so weh tun können, niemand hätte mich so verletzen können, wie ich selbst. Gegen das was ich mir in jenen Stunden an Gemeinheiten entgegen schmetterte, verblich jeder verächtliche Kommentar anderer. Es gab keinen Weg heraus, keinen Weg vorbei, kein Entkommen.
Ich höre es oft, dass Leute sagen, sie fahren diese Rennen als Challenge gegen sich selbst, um über das, was sie glauben, zu schaffen, hinauszuwachsen. Positionen und Rankings scheinen ihnen egal zu sein, so beteuern sie, häufig mit Nachdruck. Und ganz sicher ist die persönliche Bereicherung einer von vielen guten Gründen, sich einer solchen Herausforderung zu stellen. Dennoch sollte man nicht unerwähnt lassen, dass neben all diesen Gründen auch immer die Validierung unseres Egos eine Rolle spielt – Rennen fahren bedeutet auch, sich externer Bewunderung auszusetzen, Anerkennung und Wertschätzung zu erhalten. Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, aber ab und zu ist es doch recht bereichernd, diese Seite der Medaille zu entzaubern und dahinter zu blicken. Was bleibt, wenn wir die Ego- Seite eines solchen Unterfangens streichen? Wie können wir überhaupt sicher sein, dass wir wirklich für uns selbst fahren und nicht für andere und die damit verbundene externe Validierung, wenn diese immer im Hintergrund „mitläuft“?
Was passiert, wenn wir uns mit allem was dazugehört, der Scham, der Angst, dem Versagen aussetzen und alle Ego- Aspekte eliminieren?
Wir erkennen die wahre Bedeutung des inflationär genutzten Begriffs „Über sich selbst hinauswachsen“ - denn das ist buchstäblich, was wir dann tun – wir wachsen über das, was wir sind, glauben zu sein, über unser Ego, hinaus. Wir schwimmen gegen den Strom und erfahren, was das bedeutet und warum wahre Stärke manchmal von außen wie Schwäche erscheint, gar unsichtbar bleibt für diejenigen, die nie den Mut gefunden haben, diesen Schritt zu wagen.
In den Momenten, in denen unser Körper geschwächt ist, leer, der Moment, in dem die Ekstase nachlässt und nichts mehr übrig bleibt, als ein Haufen Asche und Stille, das ist der einzige Zeitpunkt zu dem wir wirklich sehen, wirklich erkennen. Es ist ein nur so kleines Zeitfenster und es bleibt den Meisten von Uns verstellt durch Alltag, Bequemlichkeit, Gewohnheit und dem was wir Wünsche nennen. Um dorthin zu gelangen, muss man alles loslassen, alle Wünsche, alles egozentrische, ja, man muss tatsächlich ein bisschen und vielleicht sogar ein großes bisschen sterben. Vielleicht auch ganz, wer weiß das schon so genau, denn ultimativ sagen kann das niemand, ob und inwiefern das körperliche Sterben, das mit der ausbleibenden Herzlinie, das mit dem langen, penetranten Piep gefühlt am Ende jedes bescheuerten Films ohne Happy End unmissverständlich angibt, dass es vorbei ist.
Wenn man alles abzieht, was Ego ist, bleibt etwas wunderschönes übrig:
Ein tiefes Begreifen - die Erkenntnis, wer du bist.
Nicht das Ego, von dem wir in unserer chronisch narzisstischen Gesellschaft immer sprechen, wenn wir unser Selbst meinen. Das eigentliche selbst ist wahrscheinlich so wenig Identität, so wenig Person, so wenig Substanz, dass es schwer ist, jemandem zu erklären, was es eigentlich zu einem Selbst macht.
Katharsis. Dahinter findest du dich selbst.
98% unserer Zeit hier verschwenden wir auf Kleinigkeiten, auf Nebensächliches, wir rennen im Kreis für ein bisschen Linderung dessen, was wir für Schmerz halten, um letztendlich zu erkennen, dass kein Weg daran vorbei führt, die Stille zu akzeptieren. Das, was wir als Versagen definieren, zu akzeptieren, verstehen, dass wir nicht über uns hinauswachsen müssen, denn erst wenn wir diese Idee loslassen, können wir werden, was wir schon immer waren.
Gehe immer zu weit, denn dort wirst du die Wahrheit finden, sagte Camus.
Und die Wahrheit ist eben auch: Manchmal ist das Stück Kuchen vor dir bloß gefrorener Mikrowellenkuchen.
Es macht keinen Sinn es zu beschönigen, Tatsachen zu verschleiern, sich etwas einzureden, es zu etwas zu erhöhen, was es einfach nicht ist. Dies ist nicht der Punkt, an dem wir etwas lernen, wo wir über uns hinauswachsen – persönliche Stärke entsteht nicht im Moment des Versagen und der Enttäuschung - deswegen ist es ja so schmerzhaft. Und es ist wichtig, diesen Schmerz zuzulassen, sich für eine Weile nicht davon abzulenken, es brennen lassen, die Erfahrung als das anzunehmen, was sie ist, mit allem was dazu gehört. Trauer, Enttäuschung, Wut.
Wir bekommen aus allen Ecken gute Ratschläge und wohlklingende Kalenderweisheiten an den Kopf geworfen, „Versagen ist Teil des Erfolgs“, Enttäuschung wird umgedeutet zu persönlicher Bereicherung. Aber das ist stark vereinfacht und wahrscheinlich sogar falsch. Was danach kommt, nach der Enttäuschung, nach dem Versagen, das entscheidet über alles weitere; ist man in der Lage, sich an die Umstände anzupassen? Wieder aufzustehen, nachdem man seine ursprünglichen Ziele verfehlt hat, sich neu zu orientieren, und zu begreifen dass ein Unterfangen nur aus einer bestimmten Perspektive „sinnlos“ ist?
Plötzlich war es egal, ob ich in diesem oder in keinem Rennen mehr in der Zeit ankam, deswegen war ich anscheinend nicht hier. Ich fuhr dieses Rennen tatsächlich nicht nur aus einem einzigen Grund, aber einen der Gründe hatte ich fast vergessen. Es war so viel Zeit vergangen und es hatten sich immer mehr Schichten gebildet, Gründe, Ziele, Träume, Wünsche, die nun alle abgeplatzt waren, wie billiger Lack. Alles war in tausend Splitter zersprungen und endlich konnte ich wieder sehen. Ich war hier für eine Chance, ja das hatte ich schon vorher richtig erkannt. Aber es ging nie nur um die Chance auf eine bestimmte Zeit, auf Bestätigung anderer, auf diesen Moment von dem ich immer wieder träumte, in dem von mir gesteckten zeitlichen Rahmen ins Ziel zu kommen. Es ging immer in erster
Linie um eins: Frieden.
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